Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft sind die zentralen Treiber des Wandels der Bau- und Immobilienbranche. «Madaster», die Schweizer Online-Bibliothek für verbautes Material, verwandelt wertloses Abbruchmaterial in ein wertvolles Materiallager. Zusammen mit strategischen Partnern hat die Arbeit begonnen, den Ansatz und die Struktur der Online-Bibliothek unter Berücksichtigung von branchenspezifischen Bedürfnissen und Standards in der Schweiz zu definieren. Mit diesem neuen Standard kann die Branche den Wandel hin zu kreislauffähigen, nachhaltigen Geschäftsmodellen gestalten.
Mit zunehmender Urbanisierung und komplexer werdenden Auswirkungen des Klimawandels steigen die Herausforderungen, denen Städte und Gemeinden weltweit gegenüberstehen. Die Baubranche generiert jährlich einen Abfallstrom von 15 Millionen Tonnen Bauabfall in der Schweiz. Madaster wurde gegründet, um die Wiederverwendung von Materialien zu fördern und in intelligente Designs zu investieren. Mit einer innovativen Inventarisierung und Registrierung von Material soll die zirkuläre Organisation von Abbruch, Bau, Renovierung und Management von Gebäuden ermöglicht werden. In der dafür entwickelten OnlineBibliothek werden im Gebäude verbaute Materialien und Produkte dokumentiert, ähnlich wie bei der Registrierung von Grundstücken und Liegenschaften beim Grundbuchamt. Die für einzelne Bauwerke generierbaren Materialpässe bieten erstmals vollumfängliche Transparenz über den finanziellen und zirkulären Wert sowie die Qualität von verbauten Materialien und Produkten.
Die Madaster-Materialpässe enthalten Informationen über die Qualität und Herkunft der Materialien und deren aktuellen Standort. Dies erleichtert die Wiederverwendung und Rückgewinnung von Materialien erheblich. Ein Gebäude wird so zu einem dokumentierten «Lagerplatz» für Materialien. Dies hilft Bauherren, Planern und Bauträgern, beim Entwerfen, Bauen und Nutzen von Gebäuden konzeptionell neue Wege zu beschreiten. Darüber hinaus ermöglicht der Materialpass den Investoren und Finanzinstituten, den Wert der Materialien in die Gesamtbewertung des Objekts einzu beziehen. Der Vorteil für den Eigentümer besteht darin, dass er ein Gebäude nicht mehr auf null abschreiben muss, da Materialien immer einen vom Immobilienmarkt unabhängigen Wert behalten. Dies schafft eine neue Dimension der Wertermittlung von Immobilien und fördert zirkuläre Geschäftsmodelle.
Frau Fischer, Sie sind Initiatorin und Präsidentin von Madaster Schweiz. Die Grundidee von Madaster stammt aus Holland. Wie fortschrittlicher sind die Niederlande beim Thema Kreislaufwirtschaft im Vergleich zu der Schweiz?
Auch für die Niederlande war Madaster ein neues Konzept. Der Gedanke, ein Grundbuch für Materialien zu führen, ist 2016 entstanden als Erweiterung des traditionellen Grundbuchs, was wir in Holland führen: das Kadaster. Ein Jahr später wurde das holländische Start-up mit einem gemeinnützigen Ziel als Stiftung gegründet. Der Grundstein dafür wurde allerdings schon im Jahr 2014 gelegt, als Europa damit begann, «circular economy» zu thematisieren.Die Niederlande verankerte ein Jahr später die Richtlinie, welche eine 100-prozentige Zirkularität des Landes im Jahre 2050 vorschreibt, 2030 sollen es mindestens 50 Prozent sein. Holland besitzt nur sehr wenige Ressourcen und ist abhängig vom Import unterschiedlicher Materialien. Die Kreislaufwirtschaft bietet dem Land ein grosses Handlungspotenzial. Die öffentliche Hand richtet nun ihr Augenmerk auf Initiativen und auf die Beschaffung zirkulärer Materialien. Um das Ziel zu erreichen, ist vor allem ein struktureller Wandel notwendig.
Fehlt es hier an Aufklärung oder Informationsbedarf bei den Beteiligten?
Die Sensibilisierung bei der Bevölkerung ist sicherlich ein wichtiges Thema. Kreislaufwirtschaft wird per se aber schon in Vereinen, Industrieverbänden und auch in der Bauwirtschaft gelebt. Auch Events wie «Die Woche der Zirkularität» sind feste Bestandteile in Holland, und auch die Medien greifen das Thema regelmässig auf.
Welche weiteren Impulse sind nötig, um den Wandel voranzutreiben?
Einerseits ist es fundamental, das Thema Kreislaufwirtschaft in der Ausbildung bereits aufzugreifen. So verankert sich der Gedanke, dass es normal ist, Ressourcen zu schonen und zirkuläre Produkte und Nutzungsmöglichkeiten derselben anzubieten. Auch ist es notwendig, dass der gesetzliche Rahmen dieses Handeln ermöglicht und dieses mit Anreizen gefördert wird. Sicherlich ist hierzu eine Umstellung nötig, die Nachfrage muss sich sowohl im privatwirtschaftlichen als auch im öffentlichen Bereich generieren. Für das wiederum braucht es Sensibilisierung der entsprechenden Akteure.
Wie wird Madaster zum Standard auf dem Markt werden?
Madaster ist überzeugt, dass Standards aus einer proaktiven Haltung, einem offenen Ansatz und dem Streben nach Kooperationen entstehen. Deshalb will Madaster die Interessengruppen aktiv einbeziehen, sodass Informationen ausgetauscht und der Dialog anregt wird. Neben dem Dialog wollen wir auch «handeln». Ausgehend von praktischen Anwendungen entsteht eine wertvolle Erfahrungsgrundlage. Darüber hinaus ist die Madaster-Plattform so offen konzipiert, dass Daten (zum Beispiel zu CRB-Baustandards) sowie weitere Applikationen jederzeit, auch nachträglich, hinzugefügt werden können.
Inwiefern lässt sich Kreativität bei der Wiederverwendung von Materialien ausleben?
Kreativität sollte bei einer Kreislaufwirtschaft keine Grenzen haben. Kreativität und Innovation sind wichtige Bestandteile der Kreislaufwirtschaft, und es ist ein Teil des Menschseins. Innovationen sind notwendig, und wir sehen diese auch entstehen, zum Beispiel Isolationsmaterial in Trennwänden oder Achterbahnschienen, welche für die Konstruktion eines Dachs genutzt werden. Natürlich gibt es Materialien, die nicht geeignet sind für Kreislaufwirtschaft wie beispielsweise Schadstoffe. Die Herausforderung, um erfolgreich zirkulär zu bauen, liegt aber eher im Prozess des Bauens an sich. Die Möglichkeiten sind endlos, aber es ist ein Umdenken notwendig. Wir müssen lernen, effizienter zu bauen, so zu konstruieren, dass Gebäude umgebaut und Materialien wiederverwendet werden können, statt diese einfach auf einer Deponie abzuladen. Wir bauen heutzutage für einen Zeitraum von 80 bis100 Jahren, obwohl sich unsere Bedürfnisse bereits viel schneller ändern. Deswegen werden auch so viele Bauarbeiten abgebrochen und wieder neu gebaut, weil diese einfach den heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen.
Vermutlich fehlt es auch ein wenig an Mut …
Es ist eine andere Arbeitsform. Hier tritt auch das Thema der Digitalisierung nach vorne. Die Digitalisierung fragt nach neuen Ansätzen für Entwicklungen und Designs.
Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung sind zwei Treiber der Baubranche. Die Digitalisierung schreitet konstant weiter voran, hinkt die Kreislaufwirtschaft hinterher?
Die Kreislaufwirtschaft ist nur möglich, weil die Digitalisierung Fahrt aufnimmt. Die technischen Lösungen sind vorhanden, wir müssen jetzt lernen zu verstehen, wie wir diese einsetzen. Hierfür können nur konkrete Projekte aufzeigen, was möglich ist und welche Vorteile diese neue Arbeitsweise mit sich bringt. Kreislaufwirtschaft ist ein Transformationsprozess, in dem Innovation entsteht.
Mit Eberhard Unternehmungen, Losinger Marazzi, Raiffeisen Schweiz, Swiss Prime Site AG und Swiss Re AG hat Madaster starke strategische Partner gewonnen. Ebenso haben Sie Anfang Mai eine Partnerschafts-Vereinbarung mit CRB unterschrieben (Schweizerische Zentralstelle für Baurationalisierung). Wie werden diese Partner in den Prozess von Madaster eingebunden?
Unsere Partner teilen die Ziele von Madaster und unterstützen die Entwicklung, Einführung und Implementierung der OnlinePlattform finanziell und konzeptionell. Die Madaster-Kennedys fungieren als Botschafter und regen die Verwendung des Madaster-Materialpass an. US-Präsident Kennedy kündigte seine Vision an, dass innerhalb von zehn Jahren ein US-Amerikaner den Mond betreten und gesund zur Erde zurückkehren sollte. Er schaffte dieses Ziel sogar vor Ablauf der zehn Jahre. Madaster braucht solche Visionäre.