Öffentliche Räume sind ein knappes Gut. Diese noch gut zu gestalten, ist eine städtebauliche Herausforderung. Auf begrenzten Flächen kommt der Verkehrsplanung eine Schlüsselrolle zu. In den letzten Jahrzehnten lag die Priorität beim individuellen Autoverkehr. Aber genau dieser braucht viel Platz und ist zudem umwelt- und klimaschädlich. Inzwischen gibt es weltweit Städte, die hier umdenken und dies auch in Handlungskonzepte umsetzen. Das Fahrrad, in der Schweiz Velo genannt, spielt dabei eine zentrale positive Rolle.
Wer, wie der Autor dieses Beitrags, im Sommer in Basel vom Badischen Bahnhof nach
Muttenz mit dem Velo fährt, kennt die klassische Bedeutung der Zweiräder im Strassenverkehr. Sie ist vorsichtig formuliert ausbaufähig. Neben den Stadtautobahnen
zwängen sich enge Fahrradstreifen. Autos und Lastwagen toben vorbei. An Ampeln hält man sich lieber hinter den Lastwagen. Rechtsabbiegende Lastwagen haben einen toten Winkel. Dieser kann beim Abbiegen tödliche Folgen haben, wenn man sich mit dem Velo im toten Winkel befindet. Verwelkte Trauerblumen und Trauerkerzen an einer neuralgischen Stelle legen davon Zeugnis ab. Die Priorisierung der Verbrennungsmotoren zieht sich durch die Jahrzehnte. Alternativen waren eigentlich nicht vorgesehen. In Stuttgart (D) durchschneiden zwei vierspurige Stadtautobahnen die Innenstadt. Städtebaulich und von der Raumplanung her, ist das eine Katastrophe. Das wird auch heute von immer mehr Verantwortungsträgern erkannt, und nun gibt es Planungen für den Rückbau. In den Sechzigerjahren war diese Zerstörung der Innenstädte aber Zeichen für den technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt der Moderne. Kein Wunder, die Stadt war und ist Sitz von Porsche, Bosch und Daimler. Aber auch in anderen Städten liessen sich solche Prioritäten und Vorgänge belegen.
Museen als Trendtreiber
2018 gab es eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) mit dem Titel FAHR RAD! Inzwischen ist sie auf Tour durch andere europäische Ausstellungsräume. Sie zeigt auf, wie eine Stadtentwicklung aussehen kann, die in Zukunft noch mehr Menschen auf das Rad lockt – und wirbt mit Projekten aus aller Welt für diese sanfte Rückeroberung der Stadt. In den Fokus gerückt werden Städte wie Kopenhagen, New York oder Fahrradautobahnen, wie die durch das Ruhrgebiet. Sie zeigen auf, wie der Weg zu einer nachhaltigen und sozialen Stadt auch über die Planungen für eine fahrradgerechte Stadt führen kann.
Um solche Thesen zu belegen, hilft in erster Linie die Einrichtung von Erfolgsspuren in anderen Städten – und dies nicht erst seit gestern.
Early bird Groningen
Springen wir in das Jahr 1977 in die niederländische Stadt Groningen. Im Stadtparlament gab es von progressiven Kräften, die gerade eine Wahl gewonnen hatten, den Vorschlag, den Autoverkehr in Groningens Innenstadt massiv einzugrenzen. Das Zentrum wurde in vier Sektoren eingeteilt. Autofahrern sollte es unmöglich gemacht werden, von einem dieser Sektoren direkt in einen anderen zu fahren. Nur der Umweg über einen Innenstadtring sollte fortan ermöglichen, von einem in das andere Innenstadtviertel zu gelangen. Freie Fahrt sollte es nur noch für freie Radler geben. Das war für damalige Zeiten ein fast ungehöriger Vorschlag. In vielen Städten ist es dies auch heute noch.
Die Empörungswellen gegen diese Pläne brachen los. Die Argumente kennt man auch heute. Fast wurde schon der Untergang des Abendlandes beschworen. Die Einzelhändler prophezeiten massive Umsatzrückgänge ihrer Geschäfte. Und Autofahrerinnen und Autofahrer fühlten sich gegängelt: «Freie Fahr für freie Bürger» war der prägnanteste ideologische Slogan der damaligen Zeit. Und was passierte Ende der Siebzigerjahre in Groningen? Die Idee wurde doch Wirklichkeit. Das hat auch damit zu tun, dass das «Fiets» in den Niederlanden schon immer eine wichtigere Bedeutung hatte, wie in der Schweiz oder in Deutschland. Schlussendlich profitierte die Stadt, trotz aller Widerstände. Groningen
hat heute die beste Luft aller Städte in den Niederlanden, mehr als 60 Prozent aller Fahrten dort werden mit dem Fahrrad zurückgelegt, der Lärmpegel der 200’000-Einwohner- Stadt liegt auf dem Niveau eines Dorfes. Businessmodelle gingen nicht vor die Hunde, sondern laufen hervorragend, da die Konsumenten besonders gern zum Einkaufen in das ruhige Groningen pilgern. Stadtplanerinnen und Stadtplaner aus ganz Europa besuchen Groningen, um die Vorbildfunktion zu würdigen und sich Inspirationen zu holen.
Die Mühen des Alltags
Von den Zahlen in Groningen ist die Durchschnittsstadt in Europa weit entfernt. Gerade einmal zehn Prozent macht der Radverkehr hier im Mittel aus. Universitätsstädte wie Münster oder Freiburg liegen hier im oberen Bereich. Dass der Anteil der Velos dringend wachsen sollte, ist unter Stadtund Verkehrsplanern unumstritten. Denn wenn die urbanen Bevölkerungszahlen der Städte weiterwachsen, wenn die Nachverdichtung mehr Wohnraum schaffen wird, wird es im urbanen Raum noch enger. Die Gefahr eines Autokollapses steht vor der Tür Ein Auto benötigt zwölf Quadratmeter Strassenraum, steht oft lange herum und
fährt nur mit einer Person durch verstopfte Strassen. Demgegenüber kommt ein Velo mit einem Zehntel der Fläche aus.
Der Wandel zu weniger Auto- und mehr Radverkehr auf dicht besiedeltem Gebiet braucht neue innovative stadtplanerische Ansätze. Gleichzeitig gilt es, modellhafte Einzelprojekte als Referenzbeispiele zu zeigen. Warum plant man nicht eine «Radbahn » unter den oberirdisch verlaufenden Gleisen der U1 in Berlin? In Utrecht gibt es ein Parkhaus für über 13’000 Räder, in Malmö wurde das ganz auf Fahrradfahrer zugeschnittene Wohnhaus Ohboy gebaut, in dem man sogar direkt mit dem voll beladenen Lastenfahrrad in die eigene Küche
gelangt. Das sind inspirierende Beispiele.
Wichtige taktische Meilensteine
Dabei dürfen die Akteure nicht in Demut ihre Forderungen durchbringen. Die Autolobby
ist weiter sehr stark. Es braucht mehr Radikalität im Denken und Handeln. Mut macht, dass das Beispiel Groningen aus dem Ende der Siebzigerjahre inzwischen kein Einzelfall mehr ist. Oslo ist bislang eine klassische Autostadt. Bis 2025 soll der Radverkehr, aktuell bei acht Prozent, mindestens verdoppelt werden. Die Osloer machen dafür ihr Stadtzentrum auf
1.3 Quadratkilometern gleich komplett zur autofreien Zone. Pakete dürfen bald nur noch per Lastenfahrrad ins Zentrum geliefert werden. In Oslo wurde auch ein neuer Standard für Radwege definiert: Mindestens 2.20 Meter müssen sie dann breit sein. Das Auto hat hier weiter Platz, aber eben viel weniger.
Zudem gibt es richtig beeindruckende Lösungen. Im Kopenhagener Hafengebiet findet man die Cykelslangen, die «Fahrradschlange ». Die 230 Meter lange, gekurvte Brücke schafft eine schnelle Möglichkeit für Radler, ein Hafenbecken zu überqueren. Die Wege von Fussgängern und Radfahrern wurden getrennt, auch das bringt mehr Beschleunigung. Und im notorisch von Staus geplagten Ruhrgebiet soll der 101 Kilometer lange Radschnellweg
Ruhr RS1 für täglich 52’000 weniger Pkw-Fahrten sorgen. HR-Abteilungen von regionale Firmen werben beim Recruiting bereits damit, dass ihr Standort an der Route liegt.
Sicherheit ist ein weiterer Punkt. Radfahrerinnen und Radfahrer müssen sich sicherer fühlen. In Toronto hat eine Umfrage ergeben, dass etwa 60 Prozent der Stadtbevölkerung
gerne aufs Fahrrad umstiegen, wäre die Unfallgefahr nicht so hoch. Verkehrsplaner setzen deshalb darauf, die einzelnen Verkehrsteilnehmer, so gut es geht, voneinander zu separieren. Auch hier war Groningen Vorreiter. Schon 1989 wurde dort an 28 Hauptverkehrskreuzungen das Prinzip «Grün für alle Radfahrer» eingeführt. Die Radler erhalten dort gemeinsam grünes Licht. Während sie die Kreuzungen passieren, ruht der restliche Verkehr.
Last but not least braucht es eine ansprechende Gestaltung. Dort, wo die neuen Radwege
ästhetisch überzeugen, werden sie auch viel schneller akzeptiert. Im neuseeländischen Auckland ist der Lichtpfad Te Ara i Whiti entstanden: Eine frühere, innerstädtische Autobahnausfahrt glänzt nun in Magenta, Lichtsäulen markieren den Weg. Die Umgestaltung des Passeig de St Jean in Barcelona – vom von Autos dominierten Boulevard zum «shared space», den sich Spaziergänger, Radler und Autofahrer auf Augenhöhe teilen – erbrachte schmucke Stadtgärten und Ruhezonen im Rastermuster. In New York führt der Waterfront Greenway Radfahrer rund um Manhattan. Die 51 Kilometer lange Route wird von Grünstreifen umrahmt, überall wächst und blüht es, überzeugender kann das Zusammenspiel von nachhaltiger Verkehrsplanung und Landschaftsarchitektur kaum glücken. Mit dem Radumbau könnten die Städte nicht nur sauberer, sondern auch schöner werden. Bis es so weit ist, braucht es noch viel Überzeugungsarbeit und Aktivismus.
In der Schweiz Zukunft gestalten
Auch in der Schweiz verursacht der Verkehr einen Drittel der produzierten Treibhausgas- Emissionen. Hier formiert sich nun Gegenwehr, die in konkreten Projekten mündet. Cyclomania ist eine Aktion von Pro Velo Schweiz zur Förderung des Velos im urbanen Raum. Gemeinden, Städte und Regionen führen dabei während eines Monats eine Veloförderaktion für die Bevölkerung durch. Ziel der Aktion ist es, Leute auf spielerische Art dazu zu motivieren, im Alltag vermehrt auf das Velo zu setzen und dadurch auch die eigene
Fitness und Gesundheit zu fördern. Durch die Teilnahme an einer Challenge generieren Sie zudem Mobilitätsdaten, welche bei der Verkehrsplanung helfen, die Veloinfrastruktur zu verbessern.
Bei grösseren Distanzen und steileren Strassenpartien bieten sich auch E-Bikes oder E-Scooters an. Ein E-Bike ist schneller, ebenso wendig, weniger schweisstreibend und eignet sich dadurch ideal für mittlere Pendelstrecken. In den zurückliegenden Corona-Monaten erlebten die Veloläden in der Schweiz einen echten Run auf E-Bikes. Nicht selten hiess es bedauernd: Leider ausverkauft. Inzwischen sind klassische Fahrräder in der Minderheit.
Ein weiteres wichtiges Stichwort heisst Sharing. Die im Internet abrufbare Karte der Bikesharing-Standorte und Veloverleih-Systeme macht das landesweite Netz von Leihangeboten sichtbar. Die Fahrräder, E-Bikes oder E-Scooters können je nach System für kurze Einwegfahrten, für ein paar Stunden oder auch Tage genutzt werden. Wichtig sind aber hier auch die Förderung und Vereinfachung des Benutzens und Umsteigens von unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Aber das ist ein weiteres Thema für einen Extrabeitrag.
www.pro-velo.ch
www.mobilservice.ch