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Gemeinschaftlich Wohnen – Wachsende Bedeutung

In unseren heutigen Ballungszentren ist Wohnen eine teure Angelegenheit geworden. Das ist aber nur ein Grund, warum genossenschaftliches Wohnen in einer Gemeinschaft wieder eine Renaissance erlebt. Das DAM – Deutsches Architekturmuseum in Frankfurt  – hat dem Thema eine spannende Ausstellung gewidmet.

Architektur und Bauen stehen vor neuen Herausforderungen. Baugruppenprojekte und Genossenschaftslösungen von Wohnbaugesellschaften erfreuen sich auch in der Schweiz wieder wachsender Beliebtheit. Die ihnen zugrunde liegende Idee des Gemeinschaftlichen setzt neue und hohe Massstäbe für Qualität. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. In erster Linie sind es flexible Lebensentwürfe und veränderte Familienstrukturen, die einen Wohnwandel verursachen. In einer Art Rückwärtsbewegung werden dabei Gesellschaft, sich umeinander kümmern und soziale Netze wieder höher geschätzt. Hinzu kommt der Wunsch, selbst aktiv auf die eigene Lebenssituation einwirken zu können. In einer alternden Gesellschaft sind Menschen mehr aufeinander angewiesen. Last but not least steht der Preis im Vordergrund. Eine junge Familie kann sich den Mietzins in urbanen Zentren kaum mehr leisten.

Die Bewohner planen, entwickeln und bauen entweder gemeinsam, und / oder sie verwalten und leben in Gemeinschaft. Dabei sind drei Elemente grundlegend: die gemeinschaftliche Immobilie, sei es nun deren Planung oder der Bezug eines entsprechenden Bestandes, darin die Möglichkeit der Begegnung und die Eigenverantwortlichkeit für das Zusammenleben. Ein Patentrezept für das Bauen und Wohnen in Gemeinschaft gibt es dabei nicht. Auch politisch ideologische Gründe wie bei früheren Projekten vor 100 Jahren spielen oft eine untergeordnete Rolle. Und es steht auch nicht jedem der Sinn nach gemeinschaftlichem Wohnen. Aber es lohnt der Blick auf individuelle Lösungen sowie die in der Wohnform enthaltenen stadtgestalterischen Möglichkeiten.

Den praktischen Wert unterschiedlicher Modelle des gemeinschaftlichen Wohnens fassen die Kuratorinnen der Ausstellung Annette Becker und Laura Kienbaum so zusammen: «Solche Orte können das soziale Zusammenleben befördern, können integrieren und in Stadtquartiere hineinwirken. Das ist nicht zuletzt im Hinblick auf den demografischen Wandel erstrebenswert.» Zur Zukunftsperspektive des gemeinschaftlichen Wohnens betonen sie: «Wir würden uns wünschen, dass sich mehr Menschen mit dem gemeinschaftlichen Wohnen beschäftigen: Kommunen und Investoren, private Bauherren, Mieter  – und Architekten. Wir haben es als äusserst robustes Modell kennengelernt, das sich vielen Wünschen und Gegebenheiten anpassen lässt, und daher erscheint es uns als eine zukunftsträchtige Form des Wohnens.»

Im Zentrum der Ausstellung stehen 26  weltweit realisierte Bauten. Sie reagieren mit unterschiedlichen Konzepten auf veränderte Lebensentwürfe und vielfältige Standorte. Mithilfe von innovativen Planungs- und Bauprozessen werden Lösungen entwickelt, die unmittelbar auf die Wünsche und Anforderungen der Bewohner ausgerichtet sind.

Die Projekte reichen vom Mehrfamilienhaus bis zur Wohnanlage mit Doppelhaushälften, vom Wohngebäude mit Gewerbe-, Atelier- und Büronutzung bis zum Umbau und der Sanierung, in einzelnen Fällen der kompletten Umnutzung verschiedenster Bestände. Ergänzt werden die auf einzelnen Projekttischen ausgestellten Bauten durch ein Archiv weiterer Projekte, die verschiedene Schwerpunktthemen behandeln und unterschiedliche Eigentumsformen beinhalten. Die Ausstellung bietet zudem eine Reihe an Hintergrundinformationen zu Finanzierungs- und Rechtsformen, zu Vorläuferprojekten und der Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens, zu den notwendigen (Planungs-)Phasen eines gemeinschaftlichen Wohnprojekts sowie zu Anlaufstellen.

Blick in die Geschichte

Konzepte des Teilens gibt es im Wohnungsbau schon lange. Verbunden mit unterschiedlichsten Motivationen existieren sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Die gemeinschaftsorientierten Projekte greifen gesellschaftliche Entwicklungen auf und entstehen oft in Zeiten von wirtschaftlichen Krisen und sozialen Umbrüchen. Einige Schlüsselbauten nehmen mit innovativen Architekturkonzepten sowie

ihren organisatorischen und räumlichen Errungenschaften bis heute Einfluss auf die Entwicklungen im Wohnungsbau.

Die Urzelle
In Robert Owens Utopie einer sich selbst versorgenden Industriesiedlung sollten städtische Wohnkultur und nachbarschaftliche Dorfstruktur verbunden und durch gegenseitige soziale Unterstützung neue Gemeinschaftsordnungen herbeigeführt werden. Er war Anfang des 19. Jahrhunderts der Urvater des gemeinschaftlichen Wohnens. Sein Geld verdiente er in einer Baumwollfabrik, die für damalige Zeiten einen hohen Innovationsgrad vorweisen konnte, aber auch, soziale Leistungen und kürzere Arbeitstage implementierte. Die Produktivität stieg, und mit dem Geld finanzierte er Arbeits- und Wohnprojekte in den USA.

Klassische Genossenschaften
Mit dem Ziel, Wohnverhältnisse in den rasch wachsenden Städten zu verbessern und preisgünstigen Wohnraum zu schaffen, konnten Arbeiter und kleine Beamte Genossenschaftsanteile an einer Immobilie erwerben und aktiv als Gemeinschaft die Gestaltung und Verwaltung mitbestimmen. Die katastrophalen Erfahrungen in realsozialistischen Ländern schadetet aber der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens. Jahrzehntelang wurde es in den Hintergrund gedrängt.

Boardinghäuser
Das Wohnen mit Service ist eine eher westlich geprägte Antwort auf wandelnde Lebens- und Wohnformen in urbanen Gebieten. Es werden einzelne Zimmer und Minimalapartments vermietet, die Verrichtung aller häuslichen Tätigkeiten wird durch kollektiv beauftragte Dienstleister übernommen. Co-housing-Siedlungen. In Skandinavien, den Niederlanden und den USA werden eigeninitiativ Siedlungen errichtet, die durch ihre Architektur ausdrücklich zur Förderung des Gemeinschaftsgefühls beitragen sollen: Die Gefüge aus privaten oder kollektiv genutzten Raumeinheiten sind dabei den jeweiligen Bewohnerwünschen nach Individualität oder Gemeinschaft angepasst.

Der Gemeinschaftspool
Im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus entstehen zum Beispiel in Wien mehrere Wohnkomplexe, die auf sehr dichtem Raum nahezu alle Elemente einer Stadtstruktur in sich vereinen und so ein besonders umfassendes Angebot für unterschiedlichste Wohnbedürfnisse und finanzielle Möglichkeiten anbieten. Gemeinschaftlich genutzte Räume fungieren als das Herz der Anlagen.

Stadtentwicklung mit Baugruppen
Seit den 1990er-Jahren setzen Städte wie Tübingen oder Freiburg (D) gezielt auf private Baugruppen, die ohne öffentlichen Auftraggeber und Bauträger Wohnraum nach ihren individuellen Wünschen schaffen. Auf diesem Weg werden Stadtviertel aufgewertet oder auch neu entwickelt. In Freiburg heisst der neue Stadtteil Vauban, der auf dem Gelände einer alten französischen Kaserne steht.
Architektenbaugruppen
Oftmals durch die Architektenschaft initiiert, wird ab der Jahrtausendwende vor allem in Berlin qualitätsvoller Wohn- und Freiraum mit Baugruppen errichtet. Restflächen und Baulücken werden mit teilweise ungewöhnlichen Lösungen bebaut, die Stadt behutsam nachverdichtet und vergleichsweise günstiges Wohneigentum geschaffen.Beispiele aus der Schweiz
Auch Vorzeigebeispiele aus der Schweiz tauchen in der Ausstellung auf. Diese sind zum Beispiel: Umbau Kraftwerk 2, Zürich , Schweiz (2011), Adrian Streich Architekten, Schmid Landschaftsarchitekten, Kalkbreite, Zürich, Schweiz (2014), Müller Sigrist Architekten, Freiraumarchitektur, und Chasa Reisgia, Ftan / Schweiz (2010), Urs Padrun.Learning from …
Gemeinschaft lässt sich nicht architektonisch planen. Eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen von Gemeinschaft sind der Wunsch und die Bereitschaft der Bewohner mitzugestalten! Architektonische Arbeiten können Einfluss nehmen auf subjektiv wahrgenommene Wohnqualitäten wie Privatsphäre, Flexibilität und Geräumigkeit sowie das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Die bewusste Gestaltung von Übergängen zwischen öffentlichen, halb öffentlichen und privaten Räumen wie auch die Gestaltung von Fassaden kann ausserdem Schnittstellen zwischen Wohnung und öffentlichem Raum generieren, die positiv in das Quartier hineinwirken.

Schwerpunkte
Das Pilotprojekt der Ausstellung setzt sich wie folgt zusammen: Ausstellung «Daheim: Bauen und Wohnen in Gemeinschaft». Die Ausstellung möchte über die Potenziale von gemeinschaftlichen Wohnformen für die Stadtentwicklung aufklären und zu einer nachhaltig erfolgreichen Umsetzung entsprechender Wohnprojekte befähigen. Neben verschiedenen Informationsangeboten wird sie sich mit städtischen Modellprojekten sowie einer Vielzahl an nationalen und internationalen Beispielbauten befassen. Durch den Transfer von Erfahrungswissen wird aufgezeigt, wie sich Bauen und Wohnen in Gemeinschaft positiv auf die Stadt- und Quartiersentwicklung auswirken können.

Netzwerkarbeit
Die Ausstellung wird durch eine umfassende Netzwerkarbeit begleitet. Es werden Experten aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eingebunden, um gemeinsam Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung des Themas «Bauen und Wohnen in Gemeinschaft» zu formulieren. Durch gezielte Informationen über Beratungsmöglichkeiten, Netzwerke und regionale Bündnisse sollen vor allem auch potenzielle Bewohner angesprochen werden.

Daheim – Bauen und Wohnen in Gemeinschaft
12. September 2015 –  28. Februar 2016
Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum
Das Buch zur Ausstellung: Annette Becker, Laura Kienbaum, Kristien Ring, Peter Cachola Schmal (Hg. / Eds.), Bauen und Wohnen in Gemeinschaft, Building and Living in Communities, Erschienen im Birkhäuser Verlag, Basel, 242 × 280 mm, 240 Seiten, Softcover, Deutsch / Englisch,ISBN: 978-3-0356-0523-5
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