Die Küche hat in der Geschichte schon sehr unterschiedliche Rollen eingenommen. So widerspiegeln sich in unseren Küchen auch gesellschaftliche Megatrends. Im folgenden Interview mit Zukunftsforscher Georges T. Roos begeben wir uns zunächst auf eine kleine Zeitreise und beleuchten dann die aktuellen Megatrends und ihre Auswirkungen auf die Küche.
Die Küche war früher ein nüchterner und eher abgeschlossener Funktionsraum. Da stand auch ein gesellschaftliches Wertesystem dahinter. Lassen Sie uns dies knapp Revue passieren. Steigen wir in die Fünfziger- und Sechzigerjahre ein. Die Welt war gesellschaftspolitisch eine ganz andere. Das traditionelle Bild der Kleinfamilie bestimmte das Leben. Die Hausfrau agierte in der Küche und der Mann kam abends von der Arbeit
nach Hause und setzte sich an den Küchen-oder Esszimmertisch und wurde von der Frau bedient. Das können wir uns heute, fünf, sechs Jahrzehnte später, gar nicht mehr vorstellen. Die Räume waren entweder Repräsentationsräume wie das Wohnzimmer oder nachgeordnete Funktionsräume wie die Küche oder das Bad. Das Wohnzimmer wurde im Alltag kaum benutzt, sondern nur wenn zum Kaffee am Sonntag die Verwandtschaft oder Freunde kamen und in Kostüm und Anzug empfangen wurden.
Küchen waren in diesem historischen Rahmen funktionale Räume. Begonnen hat dies in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit der «Frankfurter Küche», die dann zur Einbauküche mutierte und ein zentraler Baustein modernen Lebens wurde. Widerspiegelte sich hier die Fliessbandfertigung des Fordismus mit der tayloristischen Arbeitsteilung?
Wir sprechen hier von einer Zeit, die als Hochphase der Moderne bezeichnet werden kann. Der Glaube an eine bessere Zukunft war ungebrochen – im Gegensatz zu heute – und der Fortschritt lief auf einem linearen Zeitpfeil immer weiter nach oben. Fortschritt hat sich auch in standardisierten Haushaltsgeräten manifestiert. Kühlschrank, Waschmaschine oder ein Staubsauger waren ein klares Zeichen, dass die vormodernen Zeiten mit einem Küchenofen, der mit Holz oder Briketts befeuert wurde, endgültig vorbei waren. Das war
echter Fortschritt und wurde so auch empfunden. So konnte es immer weitergehen, auch für Kinder und Enkel. Der Glaube an eine bessere Zukunft war in den Köpfen.
Das war Anfang des 19. Jahrhunderts bekanntlich etwas anders und auch die
heutige Situation sieht anders aus.
Ja, es gilt, die Kombination von Zeit und Gesellschaftliche Megatrends widerspiegeln sich in der Küche. Zukunftsvorstellungen für jede Epoche genauer zu fassen. In der bäuerlichen Gesellschaft vor 250 Jahren hatte man ein zyklisches Zukunftsbild im Kopf. Der Kreislauf
hat die Wahrnehmung der Zeitvorstellungen bestimmt – Zukunft ist, was immer wiederkommt. In der Industriegesellschaft haben wir den Zeitenverlauf wie erwähnt als Fortschritt erlebt. Die Zukunft war nicht nur anders, sondern sie versprach auch besser zu werden. Heute prasselt alles zugleich auf uns nieder, nichts scheint mehr eine klare Abfolge zu haben. Mit anderen Worten: Alles scheint gegenwärtig, die Zukunft – zumindest die grossen Visionen – haben wir verloren.
Kommen wir zurück zur Küche. Die junge Generation der Siebziger- und Achtzigerjahre eroberte sich die Küche zurück und entdeckte sie als Kommunikationsraum. Die besten Gespräche auf Partys in den Wohngemeinschaften fanden in der Küche statt. Wurde hier das heutige Bild der Küche schon gelebt. Die Küche ist offen, ein Raum der weiter Funktionsplatz ist, aber auch Kommunikationsraum, der durchaus vorzeigbar sein soll.
Die Küche spiegelt eine gesellschaftliche Öffnung, mit vielen Freiheiten und in Opposition zum hierarchischen und patriarchischen Gesellschaftsmodell. Transparenz, Selbstverwirklichung, freie Gemeinschaft: Die Küche scheint dafür ein idealer symbolisch aufgeladener Ort zu sein. Da waren die Küchen der Wohngemeinschaften vor 30 Jahren gesellschaftliche Vorreiter.
Da fällt mir ein uraltes Bild ein. Seit der Steinzeit sitzen wir um das Feuer, braten uns ein Schnitzel, heute eher vegane Tofu-Würste, und erzählen uns Geschichten?
Vorsicht, es gibt kein Zurück in alte Zeiten. Die aktuellen gesellschaftlichen Megatrends, die das Geschehen in der Küche widerspiegeln, belegen dies.
Dann lassen Sie uns die Megatrends hintereinander auffächern.
Da wäre zuerst das Thema Beschleunigung zu nennen. Alles muss immer schneller gehen – auch in der Küche. Wir leben in einer sich unglaublich beschleunigenden Welt.
Aber jeder Trend hat einen Gegentrend?
Richtig. Auf den Punkt gebracht steht hier die Philosophie von Slow-Food gegen Convenience Food. Die erste Philosophie kompensiert aber den übermächtigen Trend zur
Beschleunigung. Trotzdem kann die Küche heute auch ein Raum der Entschleunigung sein. Man will zur Ruhe kommen.
Das sind aber sehr widersprüchliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft?
Aber nachvollziehbare Entwicklungen. Hier spiegelt sich ein weiterer Megatrend, der der Individualisierung, wider. Die gleiche Architektur und Einrichtung kann sehr unterschiedlich genutzt werden. Es gibt immer noch die Kleinfamilie, aber die Singlehaushalte nehmen zu und Patchwork-Familien sind Realität. Eine Küche muss heute für sehr unterschiedliche Lebensentwürfe bespielbar sein.
Ein Gebäude hat heute einen Lebenszyklus von durchschnittlich hundert Jahren. Darin ist die Nutzung einem sehr schnellen Wandel unterworfen. Das hat mit neuen Technologien und gesellschaftlichen Megatrends zu tun. Trotzdem funktionieren die alten Gebäude weiter, falls sie neu interpretiert werden können. Daher ist es auch nicht notwendig zu sagen, dass man für jeden Lebensentwurf eine andere Küche braucht. Die Küche kann und soll sich unterschiedlichen Lebensentwürfen anpassen.
Ökologie ist sicher ein weiterer Megatrend auf Ihrer Agenda?
Ja, das fängt schon bei der Mülltrennung an, geht aber weit darüber hinaus. Das Thema Ökologie wird zunehmend zum Lebensstil relevanter gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der urbanen Mittelklasse. Das muss in den Küchen der Zukunft auch erfahrbar sein. Jüngere Generationen bauen hier Druck auf.
Die Generation Greta Thunberg mit Fridays for Future wird auch der Küche ihren Stempel aufdrücken?
Ja, Küche und ökologischer Lebensstil kommen immer mehr zusammen. Das fängt bei der Effizienz der Geräte an, berücksichtigt aber auch das Essen selbst und seine Zubereitung. Fleischkonsum dürfte bei der Generation Greta an Bedeutung verlieren. Ökologische Fragen zu stellen, dürfte in den nächsten zehn Jahren eine Selbstverständlichkeit werden. Küchenbauer sollten das im Auge behalten und in ihr Angebot einfliessen lassen.
Kommen wir zum Megatrend Digitalisierung. Wenn ich heute in ein Küchenstudio
gehe, stellt mir die Küchenexpertin oder der Küchenexperte mithilfe einer 3-D-Software eine individuelle Küche zusammen. Das ist im Vergleich zu früheren Lösungen ein echter Mehrwert. Es gibt aber gleichzeitig Technologien, die für mich eher Spielereien sind, beispielsweise wenn mir der Kühlschrank diktiert, was ich einzukaufen habe.
Es gibt an diesem Punkt zwei Bereiche, die man unterscheiden muss. Zunächst gibt es die Küchenplanung und den Küchenbau, sprich, die Businessebene. Von der Herstellerseite kann ich im Küchenstudio mithilfe digitaler Lösungen meinem Kunden zeigen, wie wo was möglich ist. Jetzt gibt es von der Herstellerseite aber einen weiteren Punkt. Es geht um die zukünftige Konnektivität, sprich, die Vernetzung aller eingebauten Geräte. Schon beim Bau können alle Beteiligten am gleichen digitalen Modell arbeiten.
Hier sind wir beim Thema BIM (Building Information Modeling) …
… das auch eine Lebenszyklus-Perspektive beinhaltet. …
… Können Sie uns das an einem Beispiel verdeutlichen?
Gerne. Wenn heute der Küchenofen ausfällt, rufe ich den Service an und der frägt mich nach einer Nummer oder anderen Angaben, die ich schon lange nicht mehr habe oder wegen der Hitze nicht mehr erkennbar sind. In Zukunft kann der Handwerker sich in das digitale Modell des Hauses einloggen und hier ist jedes Gerät genau mit seinen Spezifikationen, dem Jahrgang und bisherigen Reparaturen vermerkt. So kommt der Handwerker in das Haus, hat ein klares Bild und schon das richtige Ersatzteil dabei.
Heute muss er basteln und dann oft nochmals Ersatzteile erst bestellen und in einem zweiten Termin einbauen.
Genau, das ist viel aufwendiger.
Vielleicht ist zukünftig auch eine Remote-Reparatur als Lösung möglich.
Das sehen Sie positiv?
Ich sehe da sehr viele Vorteile. Es geht um Effizienzsteigerungen und auch der Küchenbetreiber muss viele Komponenten nicht mehr vorhalten.
Jetzt müssen wir noch den Alltag in
der Küche anschauen…
Auch hier sehe ich viele Vorteile. Nehmen Sie das Beispiel der eingebauten Screens, die über Soft Touch oder Sprachbefehle zu bedienen sind. Ich kann dann eine digitale Einkaufsliste erstellen und ergänzen und wenn ich will, die Produkte auchgleich online bestellen. Zudem kann ich auch die Erstellung von Menüs abfragen und Schritt für Schritt als Video anschauen und gleich mitkochen. Oder ich höre während des Kochens einen Podcast und rufe den Entsorgungsplan auf. So erfahre ich, wo ich eine Flasche mit gebrauchtem Öl entsorgen kann. Man hat so die Informationen, die relevant für die Küche sind, an einem Platz versammelt.
Wenn Technologie gut funktioniert, ist sie in unserem Alltag nur ein Hintergrundrauschen. Wir nehmen sie kaum mehr wahr. So soll es sein.
An diesem Punkt kommt die skeptische Nachfrage, was eigentlich mit dem Datenschutz ist. Wir geben immer mehr intime Daten aus unserem Alltag preis.
Da haben Sie Recht. Die Sensibilität ist hier noch nicht ausgeprägt. Diese wird aber
kommen. Hier kommen wir zu einem weiteren Megatrend, dem der Transparenz. Über die Küche hinaus wird es Lösungen brauchen, welche unsere Privatsphäre und unsere persönlichen Daten schützen. Ansätze dazu werden diskutiert. Beispielsweise sollten wir persönliche Daten nicht bei einem App-Betreiber, sondern bei einer unabhängigen Stiftung hinterlegen können, die genossenschaftlich aufgebaut ist. Ich kann dann gegenüber einem unabhängigen dritten Player definieren, was mit meinen Daten gemacht werden darf und was nicht.
Fällt Ihnen noch ein Megatrend ein?
Gesundheit dürfen wir nicht vergessen. Das hat nun auch ganz viel mit der Frage zu tun, wie wir uns ernähren. Auch dies wird sich in der Küche widerspiegeln.
Die Verantwortlichen des diesjährigen Küchenkongresses haben ein Zitat von Stephan Grosz in ihre Headline gesetzt: «Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir gehen, sondern eine Idee in unserem jetzigen Bewusstsein. Sie ist etwas, das wir erschaffen und das uns dabei verwandelt.» Es geht um die alte Frage, wie Utopien und Träume sich in der Praxis verwirklichen lassen. Gibt es von Ihrer Seite Thesen, wie im Bereich Küche diese Lücken zu schliessen sind?
Ich stimme dem Zitat zu. Die Zukunft zu erschaffen oder zumindest mitzugestalten: Darum muss es gehen. Wichtig ist, dass man dabei die grossen Megatrends kennt, denn sie beschreiben die künftigen Rahmenbedingungen. Ich schaue mir als Zukunftsforscher die in diesem Interview angesprochenen Megatrends genauer an und arbeite Thesen heraus, was sie für die Küche bedeuten. Gesellschaft und technologischer Wandel können sich gegenseitig beeinflussen. Beschleunigung, Digitalisierung, Gesundheit, Individualisierung
und Ökologie sind hier sicher die wichtigsten Punkte, die es immer wieder neu abzuklopfen gilt.