Architektur erfüllt seit jeher die Aufgabe, den Menschen einen wohnlichen Raum zu schaffen. Architektur zeichnet sich aber auch durch ihre Einzigartigkeit aus. Sie soll die Landschaft zieren, Sinnbilder und Botschaften vermitteln, sich zurückhalten oder prunkvoll ihren Platz einnehmen. Letzteres gewinnt in einer Welt, die dominiert wird von Beton und Monotonie, immer mehr an Popularität. Wir werfen einen Blick auf ungewöhnliche und exzeptionelle Bauwerke.
Li Xiang sagt es wie folgt: «Vorstellungskraft ist ein Geschenk Gottes.» Die in Shanghai ansässige Architektin scheut sich nicht davor, von genau dieser Vorstellungskraft Gebrauch zu machen und einen neuen Anspruch an die Kombination von Kunst, Design und Architektur zu erheben. Kulturstätte, Büchereien und Hotels verwandelt Li Xiang in märchenhafte oder futuristische Räume. Ihr neustes Projekt führt Kinder in fremde Galaxien. Auf einer riesigen Fläche von circa 3 000 Quadratmetern baute das von Li Xiang gegründete Architekturbüro «X + Living» ein Spielparadies für Kinder und Familien.
Der «Meland Club» befindet sich inmitten eines der grössten Einkaufszentren Hongkongs.
Zahlreiche geometrische Figuren, verschiedenste Materialien und reichhaltige Texturen erschaffen eine weltraumähnliche Erfahrung. Das Zusammenfügen scheinbar unregelmässiger Geometrie und die Anhäufung heller Farben sind nicht ungeordnet und chaotisch, im Gegenteil, es ist eine harmonische Beziehung zwischen internen Elementen und dem Gesamtthema nach sorgfältiger Planung. Jedes Detail hat praktische funktionale Bedeutung. Zum Beispiel können die Schränke und Regale, die als Pflanzen gut getarnt sind, zur Aufbewahrung verwendet werden. Der funktionale und der ästhetische Wert des Designs vermischen sich hier perfekt. Zahlreiche Unterhaltungsmöglichkeiten wie ein Ballpoolbereich, rotierende Rutschen, Kletterseile, Labyrinthe und ein eigener Restaurantbetrieb sind Teil des Familienparks. Der Park erfüllt nicht nur die Ansprüche eines
Kindes an ein pures Spielvergnügen, auch das angeborene Gefühl der freien Erkundung und individuelle Lernprozesse werden durch die verschiedenen Räume gefördert. «Die Neugier und Unschuld des Lebens, die wir haben oder bereits verloren haben, wird hier wieder zum Leben erweckt», erklärt Li Xiang.
Mit den Augen eines Kindes bauen
Mit Emotionen, Fantasien und der Neugier spielt auch das Architekturstudio «Kientruc O» aus Vietnam. 2018 entwarf es den «TTC Elite Saigon Kindergarten» inmitten Vietnams grösster Stadt Ho-Chi-Minh. Die ersten drei Stockwerke des Gebäudes bestehen aus fünf Ebenen und sind für Klassenzimmer und Indoor-Spielplätze reserviert. In den oberen Etagen werden Veranstaltungen, Personalschulungen und Schulverwaltungsabteilungen organisiert. Der Kindergarten wurde in einer rein geometrischen Form konzipiert, um die Neugier der Kinder jeden Tag aufs Neue zu wecken. Ganzheitlich betrachtet ähnelt die Architektur einer kubistischen Form ähnlich den benachbarten Wohnblöcken, bringt jedoch
einen frischen, attraktiven und lebendigen Atemzug in die Region. Auffällig ist die spielerische Anordnung und Konzipierung der Fenster. Diese scheint zufällig zu sein, wird
jedoch systematisch berechnet, um sicherzustellen, dass jedes dahinterliegende Klassenzimmer bei Verwendung ausreichend natürliches Tageslicht und Belüftung erhält.
Grosse Fenster öffnen den Blick nach aussen und fördern die Beziehung zwischen den Kindern und der unmittelbaren Umgebung. Durch die vielen Lichtquellen werden die Farben der Innenräume intensiviert und sorgen so für eine verzauberte und märchenhafte Atmosphäre.
Eine menschliche Beziehung zur Landschaft
Architektonische Bauwerke erfüllen aber nicht immer nur primäre Zwecke für den Menschen. Manchmal steht auch der Kontext zur Natur im Vordergrund. Das energetische
Architekturstudio «MUTT» aus England geniesst den Ruf, Orte mit Identitäten zu schaffen, die das Alltagsleben vereinfachen. Eines dieser Objekte ist der «Ordnance Pavilion», der im Rahmen des Festivals «Lake Ignite» 2018 entworfen wurde. Ziel war es, die denkmalgeschützte Kulturlandschaft des Lake District zu zelebrieren. Das Studio MUTT nahm sich dies zum Anlass, die Nutzung von sogenannten Ordnance-Survey-Karten zu thematisieren. Zwischen 1935 und 1962 wurde die gesamte Landschaft Englands mithilfe
dieser Kartierung manuell in Dreiecke aufgeteilt. Aus diesem Verfahren entstanden die Formen und Strukturen des Pavillons – jeder Bestandteil des Pavillons verweist auf einen bestimmten Moment in der Kartierungsgeschichte Grossbritanniens. So verknüpft das Architektenbüro funktionale wie auch kulturelle Werte mit emotionalen Inhalten. «Es war ein Kanal für unsere physische menschliche Beziehung zur Landschaft: die geografischen Bedingungen sowie die von Menschen gemachten Konstruktionen, die darüberstehen», erklärt das Studio MUTT.
Kunstvolle Fassaden, dekorative Aussagen
Die Künstlerin Camille Walala hinterliess mit ihren kräftigen Farben und Grafiken weltweite Spuren, entfesselte Muster überall von Cafés in Melbourne bis zu Hotels auf Mauritius. Bekannt für ihre grossformatigen Wandbilder und spielerische interaktive Installationen schuf Walala im Jahr 2018 im Rahmen der New Yorker Designmesse eine Fassade eines siebenstöckigen historischen Gebäudes in Brooklyns Kreativzentrum Industry City. Das auffällige POP-Design mit 3D-Effekt enthält die architektonischen Merkmale und die Farbpalette des Gebäudes und ist mehrheitlich von seiner Umgebung inspiriert. Das Grafikdesign erinnert an die Memphis-Design-Bewegung aus den 1980er-Jahren, die
die Regeln des Funktionalismus brechen wollte. Dieses «Anti-Design», wie es genannt wurde, setzte auf schrille, verspielte und fröhliche Farben und Muster. Die grösste Herausforderung stellte die Übertragung des Designs von einem A4-Blatt auf eine 40-Meter-Fassade dar, da kleine Details bei mehrfacher Vergrösserung oftmals verzerrt werden können. Die Umgestaltung der Fassade dauerte rund zwölf Tage und wurde am Eröffnungstag von WantedDesign Brooklyn enthüllt.
Auf der anderen Seite des Atlantiks steht ein weiteres farbenfrohes Gebäude. «Ting 1» ist
ein Wohnhaus, lokalisiert im nordschwedischen Örnsköldsvik. Der Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs im Jahre 1961 verdankt das ehemalige Gerichtsgebäude sein Aussehen. Das Ergebnis war ein kompromissloses Betongebäude, das 1967 eingeweiht wurde und seinen Zweck gut erfüllte. Die Zeiten haben sich geändert und das Gerichtssystem mit ihnen. Schlussendlich wurde das Gebäude nur wenige Tage im Jahr genutzt. Niklas Nyberg, der Sohn eines Malers und ein örtlicher Baumeister mit einem farbenfrohen Charakter, stellte sich der Herausforderung, das Gebäude umzuwandeln. Als passionierter Kunstsammler von Bengt Lindström, einem international anerkannten Maler mit Wurzeln in der Region, ist die klare Verschmelzung der Fassade mit einem Gemälde von Bengt Lindström, dem «Frauentanz», deutlich zu erkennen. Nyberg bediente sich an der
prachtvollen Farbpalette des Gemäldes, die sowohl die Keramikfliesen als auch die Balkone
ziert. «Ting 1» steht einerseits im Kontrast zur Umgebung, andererseits nimmt die Konstruktion aber die hügelige und bewaldete Landschaft der Region wieder auf. Ein weiterer Beweis dafür, dass sich selbst verspielte und exzeptionelle Architektur in die Landschaft eingliedern und trotzdem einen hohen Grad an Funktionalität erfüllen kann.