Mehr als 70 Millionen der 7.8 Milliarden Menschen auf der Erde sind heute Geflüchtete und Asylsuchende. Ein Grossteil davon befindet sich ausserhalb Europas, viele von ihnen sitzen in Zeltstädten oder notdürftigen Unterkünften fest. Provisorische Unterkünfte werden so viel zu oft schleichend zu dauerhaften Lösungen.
City of Refugees, ein dreijähriges Forschungsprojekt der University of Houston, bereichert die Diskussion über neue Lösungen um unkonventionelle Ansätze: Als Prototypen für
die Unterbringung wurden vier fiktive Städte auf vier Kontinenten entworfen, die den
unmittelbaren Bedürfnissen der Bewohner Rechnung tragen und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit langfristig fördern. Die Ausstellung vermittelt einen Einblick in die verschiedenen Facetten dieser Utopien, erzählt aber auch vom Leid und den beschwerlichen Reisen der Geflüchteten und unterstreicht damit die Aktualität dieser Problematik.
Die weltweite geopolitische Landschaft ist aktuell geprägt von einer Zunahme nationaler
und internationaler Konflikte, die in vielen Regionen und Ländern massive Migrationsströme
verursachen. Auch die Folgen des Klimawandels und Zerstörungen der Umwelt zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Viele Geflüchtete hängen zwischen den Grenzen fest, weil immer weniger Länder bereit sind, die wachsende Zahl an Migranten aufzunehmen. So sind sie häufig in Flüchtlingslagern gefangen: Diese wachsenden Zeltstädte sollten zwar ursprünglich nur der vorübergehenden Unterbringung dienen, werden aber tatsächlich immer öfter zu Dauerlösungen.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang das Flüchtlingslager Kutupalong in
Bangladesch, das seit 1991 besteht. Dort, im mittlerweile grössten derartigen Lager weltweit, leben 600’000 Menschen auf gerade einmal 13 Quadratkilometern, was Infrastruktur und Dienstleistungen an ihre äussersten Grenzen bringt. Ein jüngeres Beispiel einer dauerhaften Siedlung ist das Lager Zaatari in Jordanien, wo seit 2012 Menschen Zuflucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien finden. Mit geschätzten 80’000 Einwohnern, einer Hauptstrasse mit Marktständen und Geschäften, Kindergärten und Schulen, Solarstrom und einem eigenen Trinkwassersystem ist Zaatari heute die viertgrösste «Stadt» Jordaniens. Die häufig vergessenen, «temporären» Siedlungen entwickeln sich jedoch meist zu willkürlichen, schlecht ausgestatteten, dauerhaften Orten, die auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind.
Genau das soll mit den neuen Utopien nicht geschehen. Sie sind von vornherein auch auf die langfristigen Anforderungen ihrer Bewohner und der geopolitischen Situation ausgelegt.
Stadt der Geflüchteten
In einer Reihe intensiver Workshops unter Leitung von Peter J. Zweig, Fellow of the American Institute of Architects (FAIA), und Gail P. Borden, FAIA, entstanden am Gerald D. Hines College of Architecture and Design der University of Houston über einen Zeitraum von drei Jahren vier unkonventionelle Entwürfe für prototypische Städte für Geflüchtete auf vier Kontinenten, in denen zwischen 50’000 und 500’000 Menschen leben können.
Bridge City
Die Stadt liegt am Rio Santiago in Ecuador nahe der peruanischen Grenze, direkt südlich des Äquators. Sie erstreckt sich entlang einer wichtigen ecuadorianischen Fernstrasse, rund drei Kilometer von einem Flugplatz entfernt. Die Lage ist für eine autarke Stadt bestens geeignet. Sie bietet den Einwohnern reichhaltige Ressourcen zum langfristigen Aufbau einer CO2-neutralen Stadt. Die von Sol LeWitt inspirierte Struktur dient der Bevölkerung als Brücke über den Rio Santiago und eröffnet gleichzeitig Möglichkeiten beispielsweise für lokale Aquakultur sowie eine Anlegestelle für Märkte auf dem Wasser. Die Region am
Rio Santiago bietet ideale Bedingungen für Honigproduktion, Obst-, Gemüse- und
Blumenanbau. Traditionelle Wirtschaftszweige sind Keramik und Palmflechterei, was jetzt für den Bau der Häuser in der Stadt genutzt werden kann.
Die architektonische Infrastruktur besteht aus einem Gitter aus würfelförmigen Elementen mit je 30 Fuss (circa neun Meter) Kantenlänge, das einen viel befahrenen Fluss überbrückt, der für Fischerei, Handel und Gütertransport genutzt wird. Die Gesamtstruktur ist von Öffnungen für Licht und Wind durchbrochen, sodass innerhalb der regelmässigen Geometrie Bereiche unterschiedlicher Dichte entstehen. Die funktionale Nutzung ist durch die jeweilige Position innerhalb der Gitterstruktur der Stadt bestimmt: Die Unterseite ist durch die Interaktion mit dem Fluss geprägt, wohingegen die Oberseite eine performative
Dachlandschaft bildet, auf der in parkähnlichen Anlagen Solarenergie und Lebensmittel
erzeugt werden können. Die Infrastruktur ist darauf ausgerichtet, die Möglichkeiten der Lage am Äquator durch Hydrokulturen, Abfallrecycling, Wasserauffangsysteme sowie passive und solare Energieerzeugung zu nutzen.
Gradiant City
Die Stadt liegt am Rande des Eduardsees im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK) an der Grenze zu Uganda. Ein steiler Hang ermöglicht es, der Stadtgestaltung die höhenbedingten Temperaturunterschiede zugrunde zu legen. Beide topografischen Elemente – der Hügel und das Seeufer – finden sich in der städtischen Form der gRadiant City in zwei linearen Strukturen wieder. Die eine zieht sich vom Wasser aus den Hang hinauf, die andere verläuft parallel zur Uferlinie. Der Hang erzeugt mit zunehmender Höhe ein erhebliches Temperaturgefälle.
Die Stadt folgt einer linearen Ausrichtung, die sich senkrecht zum angrenzenden Gewässer
den Hang hinaufzieht. In dieser ansteigenden Stadtstruktur bestimmen die Temperaturunterschiede die jeweils optimale Stelle für den Anbau von Nutzpflanzen. Gleichzeitig verringert sich entlang dieser Linie mit zunehmender Entfernung vom Seeufer die Dichte – vom städtischen über den vorstädtischen zum ländlichen Raum, und die Wirtschaftsbasis der Stadt verlagert sich schrittweise vom Wasser aufs Land.
Durch die Verbindung einer utopischen Typologie mit lokalen Traditionen entsteht eine einzigartige Architektur. Sie gleicht einem horizontalen, sich über die Landschaft breitenden Wolkenkratzer, dessen eingeschlossene und schwebende Programme für Schatten sorgen und unter der performativen Dachkonstruktion eine verbindende Schicht bilden.
Switchback City
Die Stadt liegt im serbisch-rumänischen Grenzgebiet an der Donau in der Nähe der
serbischen Stadt Tekija. Die Lage in einer Flussschleife entlang einer serbischen
Fernstrasse ist ideal für eine autarke Stadt. Reichlich verfügbare Ressourcen ermöglichen
den langfristigen Aufbau einer CO2-neutralen Stadt sowie einer Wirtschaft, die sich aus dem örtlichen Holzhandel entwickeln kann. Die Struktur der Stadt ermöglicht eine symbiotische Beziehung mit der Bevölkerung der serbischen Region und schafft gleichzeitig wirtschaftliche Möglichkeiten in Branchen wie Aquakultur für die Versorgung mit Lebensmitteln und Holz für die Herstellung von Baustoffen. Die Gegend eignet sich hervorragend für Terrassenfelder, landwirtschaftliche Betriebe und Fischerei.
Die Stadt liegt in einer Flussschleife mit terrassenartig ansteigendem Ufer, dessen einzelne Ebenen durch ein Netz von Serpentinenstrassen miteinander verbunden sind. Diese einzigartige Stadtstruktur aus sechsgeschossigen Gebäuden (jeweils drei Einheiten nach oben und drei nach unten) ermöglicht eine vertikale Stadt mit horizontaler Erschliessung. Der bewaldete Hügel bildet mit seinen Holzressourcen einerseits die wirtschaftliche Basis und liefert andererseits das Baumaterial für die Stadt. Ihre keilförmige Anlage entlang der Flussschleife ermöglicht einen stufenweisen weiteren Ausbau der Stadt. Dank der Lage am Fluss kann mit den Produkten aus nachhaltiger Holzwirtschaft lebhafter Handel mit den umliegenden Städten getrieben werden. Per Seilbahn ist jeder Punkt der Stadt innerhalb
von zehn Minuten ohne Auto erreichbar.
Upcycle City
Die Stadt liegt am Golf von Bengalen, in Bangladesch, nahe der Grenze zu Myanmar. Die Küste von Bengalen ist ein riesiger Schiffsfriedhof. Upcycle City wird die zahlreichen unbrauchbar gewordenen Schiffe, die dort gestrandet sind, zerlegen und die Schiffscontainer als Wohneinheiten für Geflüchtete neu nutzen. Zudem wird die Stadt
den bestehenden Damm als Teil des Infrastruktursystems nutzen. Die Stadt ist in drei Bereiche unterteilt: Meer, Land + Meer sowie Land. Der meeresseitige Teil besteht aus ungenutzten Bohrinseln, die künftig als landwirtschaftliche Zentren dienen sollen. An der Küste wird ein Industriegebiet entstehen, in dem die grossen Schiffe zerlegt und einer neuen Verwendung zugeführt werden. Im landseitigen Teil wird der grösste Teil der Bevölkerung leben. Die Geflüchteten werden ihren eigenen freien Markt unterhalten und ihn durch die unterschiedlichen Fertigkeiten der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner stärken.
Upcycle City basiert auf den ausgemusterten Technologien der Bohrinsel-, Frachtschiff- und Schiffscontainerindustrie und entwickelt ihre Wirtschaft ebenso wie ihre tektonische Morphologie auf der Grundlage dieser aufgegebenen Ressourcen. Die Stadt liegt direkt am Meer zwischen Überflutungsflächen, die den Gezeiten unterworfen sind, einer Eisenbahnlinie, einer wichtigen Fernstrasse und einem bestehenden Damm und gliedert sich in drei Zonen: Die erste befindet sich auf dem Wasser (Bohrinseln), die zweite an der Küstenlinie (Schiffswracks) und die dritte liegt vollständig an Land (neben- und übereinandergestapelte Schiffscontainer). Durch ihre Anordnung bilden sie verschiedene Viertel und Bezirke, die die Stadt strukturieren. Unterschiedlichste Elemente – Kreisfelder, eine Seilbahn, die zur schnellen Erschliessung der Stadt immer wieder die Hauptstrasse
quert, gestapelte Container als bauliche Grundlage, verbunden durch Fussgängerstege und innovative, nahezu CO2-neutrale Infrastruktursysteme – bilden die einzigartige Architektur von Upcycle City.
Global und Lokal
Die Konzeption der Städte basiert auf universellen architektonischen Grundsätzen,
berücksichtigt aber zugleich in hohem Masse lokale Traditionen, auf die die Bewohner der City of Refugees beim Errichten ihrer eigenen Häuser zurückgreifen können. In dieser Verbindung universeller Ideen und lokaler Traditionen lassen sich die Ursprünge der gegenwärtigen Stadt neu definieren.
Entwicklung einer Utopie
Bevor die Studierenden sich Gedanken über die städtebauliche Gestaltung dieser fiktiven Orte machten, analysierten sie zunächst die Verteidigungsausgaben der USA, die sich auf 700 Milliarden US Dollar jährlich belaufen. «Durch Umwidmung von weniger als einem Viertelprozent des Militärhaushalts liesse sich eine City of Refugees finanzieren», erläutert Professor Peter J. Zweig und fährt fort: «Wir schlagen zum Beispiel vor, den Bau eines
U-Boots um ein Jahr zu verschieben und damit den Bau einer ganzen Stadt zu ermöglichen.»
Im Rahmen einer Neuinterpretation der Utopia von Thomas Morus aus dem Jahr 1516 ist die City of Refugees ein Ort, der über das Schicksal der aus ihrer Heimat Vertriebenen hinausreicht. Sie ist mehr als eine Zwischenstation. Konzipiert wird dabei eine Stadt in einem neuen Kontext, in der Migranten einen Ort finden, an dem sie frei sein und unabhängig handeln können. Hier können sie ankommen statt auszuharren. Die vier Stadtentwürfe würden als von den Vereinten Nationen geförderte freie Wirtschaftszone eine Grundlage für eine neue multi-ethnische Gesellschaft schaffen, die auf Gerechtigkeit und Toleranz basiert, wirtschaftlich tragfähig und CO2-neutral ist.
In diesen Städten wird das Konzept der Strasse neu definiert, denn Autos sind
nicht mehr nötig, nachhaltige Technologien werden neu gedacht, und die Architektur
ist gleichermassen regional wie universell. Zusätzlich zu den vier Standorten
der entworfenen Prototypen wurden weitere denkbare Orte in verschiedenen Weltgegenden
identifiziert, zum Beispiel das Grenzgebiet zwischen den Städten El Paso in Texas (Vereinigte Staaten) und Ciudad Juarez auf der Isla de Cordoba (Mexiko). Dieser als «Niemandsland» bezeichnete Landstrich könnte der wachsenden Zahl der Vertriebenen an der Südgrenze der Vereinigten Staaten zu Mexiko eine Unterkunft bieten.
Peter J. Zweig sagt dazu: «Durch die Vermischung lokaler gesellschaftlicher Bräuche
mit den importierten Gewohnheiten der Geflüchteten entsteht ein Umfeld, das der Idee eines unmittelbar bei der Ankunft in der Stadt gegebenen ‚Versprechens‘ gesellschaftlicher Akzeptanz durch ehrenamtliches Engagement, Eigenständigkeit, Bildung, gemeinschaftliche Nutzung von Küchen und Arbeitsräumen verpflichtet ist. Eine angemessene Infrastruktur macht das Auto als vorrangiges Transportmittel überflüssig: Jede Stelle in der Stadt ist in
zehn Gehminuten erreichbar. Die Stadt wird in erster Linie mit Strom aus alternativen
Energiequellen, wiederaufbereitetem und Regenwasser sowie lokal verfügbaren Lebensmitteln versorgt. Abfälle werden innovativ recycelt, und durch Biotoiletten entfällt die Notwendigkeit für Abwassersysteme. Die City of Refugees ist ein Vorschlag zur Lösung eines Problems, das nicht nur Geflüchtete betrifft, sie zeigt eine mögliche Lösung für den Klimawandel und für die Verschwendung natürlicher Ressourcen auf und enthält ein Versprechen, auf die aktuellen globalen Herausforderungen zu reagieren.»