Bis heute versorgt der Energiesektor mehrere Millionen Konsumenten, egal ob
Privathaushalt oder Industrie, mit Strom aus einigen wenigen Kraftwerken.
Dieser Strom wird relativ gebündelt produziert und dann über die Schweizer Netze über sieben verschiedene Netzebenen zum Endverbraucher transportiert.
Obwohl Strom zwar heute schon in kleineren Mengen gespeichert werden kann, basiert unser Energiesystem noch immer auf der Gleichzeitigkeit von Produktion und Verbrauch. Das heisst, zu Zeiten, in denen unser Verbrauch relativ gesehen hoch ist, wie beispielsweise an kalten Winterabenden, sind wir auf die zeitgleiche Produktion von
Strom angewiesen. Den Strom, den wir in der Schweiz nicht selbst produzieren können,
kaufen wir aus dem europäischen Netz dazu. Nicht zuletzt dafür ist die Schweiz an 41 Übergabestellen an der Grenze zu den fünf Nachbarländern mit dem europäischen Übertragungsnetz verbunden. Diesem zentral organisierten System steht nun mit der Energiewende ein struktureller Wandel bevor.
Ein Blick in die Zukunft
Unsere Klimapolitik sieht eine radikal dekarbonisierte Stromversorgung für die Zukunft
vor. Der eine Schweizer oder die andere Schweizerin mag nun argumentieren, dass der schweizerische Strom ohnehin dank Wasserkraft schon dekarbonisiert sei; doch die Energiestrategie 2050 sieht darüber hinaus einen Ausstieg aus der Kernkraft vor. Bei unserem Stromverbrauch, der in den nächsten Jahren durch Elektromobilität und durch elektrisch betriebene Wärmepumpen um bis zu 30 Prozent steigen wird, klafft nun eine Lücke in der Versorgung. Diese plant man, durch erneuerbare Energien und insbesondere
durch Photovoltaik zu decken. Das Bundesamt für Energie schätzte das Schweizer
Potenzial für Photovoltaik im Jahr 2018 auf 67 TWh. In Punkten Umsetzung mit dem heutigen Ausbau von etwa drei Prozent liegt die Schweiz jedoch noch weit unter den Möglichkeiten.
Wagt man den Blick in die Schweiz des Jahres 2050 und geht optimistisch davon
aus, dass einige energiepolitische Massnahmen zu einem breiten Ausbau von
Photovoltaik geführt haben, so sehen wir Tausende Kleinkraftwerke, die unseren
täglichen Strom liefern: Dächer mit Solaranlagen. Aus dem früheren Top-Down-
Energiesystem (von wenigen Kraftwerken zu vielen Verbrauchern) wurde ein engvermaschtes und dezentrales Netzwerk, in dem viele kleine Kraftwerke all jene mit
Strom versorgen, die Strom benötigen. Dazu kommen dezentrale Speichermöglichkeiten,
die überschüssigen Strom während der Sonnenstunden sammeln und für die dunklen Stunden des Tages bereitstellen. Im Jahr 2050 wird man zudem diverse Power-to-X-Methoden wie zum Beispiel die Umwandlung von Solarstrom in Wasserstoff anwenden, um überschüssigen Strom vom Sommer für einen späteren Verbrauch im Winter zu präservieren.
Veränderungen im Energiesektor
Während uns der Blick in die Zukunft zeigt, dass wir die Energiewende schaffen können,
zeigt er uns auch die neue komplexe Struktur des Energiesektors auf. Wir werden Hunderttausende Geräte haben (Photovoltaikanlagen, Batteriespeicher, Elektroautos),
die entweder Strom produzieren, verbrauchen oder lagern. Die effiziente Verwaltung dieser Geräte wird nicht mehr händisch geschehen, sondern bedarf intelligenter Steuerungsalgorithmen, flexibler Abrechnungsmethoden und einer stabilen Kommunikation zwischen den Geräten. Das digitale Zeitalter, das heute doch so manch erfahrene Führungsperson innerhalb der Energieversorgungs-Unternehmen beim blossen Gedanken an die Zukunft ins Schwitzen bringt, hat also Einzug in den Energiesektor genommen. Heute sehen wir mit dem flächendeckenden Rollout der Smart-Metering-Infrastruktur einen der ersten Pflastersteine der Digitalisierung gelegt. Bis 2027 werden 80 Prozent der Schweizer Endverbraucher mit der Technologie ausgerüstet, die den jährlichen Ablesebesuch durch den freundlichen Mitarbeiter des Energieversorgungs-Unternehmens oder ersatzweise durch freiwillige Pensionierte aus der Nachbarschaft überflüssig macht.
Von nun an können die Verbrauchs- und Produktionsdaten per Fernauslesung erfasst
und direkt weiterverarbeitet werden. Bis 2027 sollen die Daten zudem den Endverbrauchenden in Kundenportalen und Apps aufgezeigt werden; mit dem Ziel,
energieeffizientes Verhalten zu fördern.
Energiewende aktiv mitgestalten
Das zuvor ausgemalte Szenario zeigt uns auch, dass die Bevölkerung einen grossen
Teil zur Energiewende beiträgt, indem sie in Photovoltaikanlagen, Batteriespeicher und Elektroautos investiert. Die steigende Nachfrage nach diesen Technologien sehen wir bereits heute und es kann davon ausgegangen werden, dass die Covid-19-Pandemie generell die Bedrohung durch Krisen stärker ins Bewusstsein rückt. Im Jahr 2050 wird der
einzelne Haushalt fast energieautark aufgestellt sein, betreibt rentable Anlagen und ist in einem Bottom-up-System (von unten nach oben) organisiert, in dem er Strom von den umliegenden Haushalten bezieht beziehungsweise eigenen produzierten Strom weiterverkauft. Ein zentrales Element wird es sein, den einzelnen Haushalt für dieses System zu gewinnen und ihn zu motivieren, sich nachhaltig für dessen Erhalt einzusetzen.
Apps, die Daten interessant aufbereiten und dem Individuum einen solchen Beitrag zur Energiewende auf motivierende und spielerische Weise aufzeigen, können ein wichtiger Teil der Lösung sein.
Technisch möglich ist all dies bereits heute, wie das vom Bundesamt für Energie geförderte
Forschungsprojekt «Quartierstrom» der ETH Zürich und Universität St. Gallen in Zusammenarbeit mit einem Industriekonsortium gezeigt hat. Daraus entstanden ist das Software-Start-up Exnaton, das nun mit «PowerQuartier» eine Abrechnungssoftware für Energiegemeinschaften inklusive einer App für motivierte Energiewendenmacher / innen vermarktet. Das 2020 gegründete ETH-Spinoff beliefert mit seiner Software bereits den schweizerischen und österreichischen Markt.
Damit wir die Bevölkerung heute für die kommenden Schritte der Energiewende
gewinnen, müssen wir ein funktionierendes Anreizsystem rund um erneuerbare
Energien schaffen. Bis heute ist der schweizerische Energiemarkt monopolistisch aufgebaut, das Netz in halbstaatlicher Hand. Der Verkauf des eigenen Stroms an die Nachbarschaft als Alternative zum immer weiter sinkenden Einspeisetarif lohnt sich nicht (natürlich unter der Voraussetzung, der monopolistische Energielieferant erlaube dies), da mit jeder Kilowattstunde Strom, die das öffentliche Netz berührt, die gesamte schweizerische Infrastruktur finanziert wird. Ein möglicher Ansatz sind lokale Netzentgelte,
die die Netznutzung für den Nachbarschaftshandel günstiger machen und somit die Rentabilität von Photovoltaikanlagen erhöhen und der Bevölkerung Anreize für erneuerbare Energien setzen könnten. Der Blick ins Ausland zeigt, dass Österreich dies noch dieses Jahr umsetzen möchte. Zudem befürwortet der EU weite Green Deal ebenfalls die Bildung
von Energiegemeinschaften unter privaten Haushalten, um diese aktiver in den Energiemarkt einzubinden. Wie schafft es die Schweiz, die eigene Bevölkerung in
der Energiewende mit mehr als Ambitionen und Worten zu unterstützen?