Roma Agrawal ist eine junge multikulturelle Frau, die als Bauingenieurin sprichwörtlich auf vielen Baustellen dieser Welt unterwegs ist. Sie stammt aus Mumbai in Indien und lebt in London. Sie hat eine filigrane Hängebrücke für Fussgänger in Newcastle geplant und an dem Londoner Hochhaus «The Shard» mitgearbeitet. Das Wichtigste für uns Leserinnen und Leser ist aber, dass sie die Welt der Bauten uns Laien gut erklären kann.
Der Blick hinter die Fassaden lohnt sich. «Die geheime Welt der Bauwerke» heisst das Buch in deutscher Sprache, der englische Titel passt aber besser: «Built. The hidden stories behind our structures». Das Spannende an dem Buch ist nicht die Darstellung der vielfältigen und faszinierenden Bauten der Weltgeschichte, sondern die Auffächerung der Geheimnisse, die wir als Laien nicht sehen.
Dazu nimmt uns Agrawal an die Hand und macht mit uns Ausflüge in die Geschichte und wir bekommen Fragen beantwortet: Warum steht die Chinesische Mauer noch? Sie wurde mit Mörtel gebaut, dem man Klebreis hinzugab. Reis bringt Stärke mit. Diese festigt die Verbindung von Mörtel und Stein, ermöglicht aber gleichzeitig Flexibilität, damit bei Temperaturschwankungen nichts bricht. Das Taj Mahal wird durch eine Mischung aus Branntkalk, zermahlenen Muscheln, Marmorstaub, Gummi, Zucker, Fruchtsaft und Eiweiss zusammen gehalten. Agrawal besucht mit uns die Kathedrale Santa Maria des Fiore in Florenz. Dort stehen wir staunend unter der riesigen Kuppel und fragen uns, was hält diese Kuppel zusammen und welche Technologien haben die Baumeister verwendet? Die Autorin erklärt uns die Funktionsweise eines «Fischgräten-Mauerwerks» und wie diese Technologie noch heute verwendet wird. Agrawal ist sich auch nicht zu schade, in die Unterwelt der Abwässer in London hinabzusteigen. Hier geht es darum, wie eine komplette Infrastruktur einer modernen, städtischen Umwelt funktioniert.Das Buch verdeutlicht uns Technologien und Mechanismen, die für uns eine Selbstverständlichkeit sind, wenn wir über eine Brücke fahren, in den Lift einsteigen oder die Toilettenspülung betätigen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Häuser halten, Flüsse überbrückt werden können, Fahrstühle fahren, Wasser trinkbar aus der Leitung kommt und die Strasse nicht mehr riecht wie eine Kloake. Diese Wunder haben Menschen mit Namen vollbracht, die man heute unter dem Berufsbild des Ingenieurs zusammenfasst. Die Akteure glaubten trotz widriger Umstände an ihre Lösung. Es geht um Last- und Zugkräfte, Druck, Wind, die Weichheit des Bodens. Überall brauchte und braucht es Lösungen. Die Autorin hat eine Hymne für diese Menschen geschrieben.
Agrawal arbeitet in einer Männerwelt. Sie erzählt von skurrilen Momenten, wenn sie als Planerin die männlich geprägte Welt der Bauwagen- Macho-Maschinen und Spindfotos betritt. Aber sie verweist darauf, dass sie auch weibliche Vorbilder gefunden hat – Emily Warren Roebling zum Beispiel, ohne deren Tatkraft, Organisations- und Verhandlungsgeschick die Brooklyn Bridge in New York nicht zustande gekommen wäre. Sie konnte nur im Hintergrund agieren. Heute dürfen Frauen zum Glück Bauingenieurin werden und haben jetzt mit Roma Agrawal ein Vorbild.