«Verraten Sie mir das Geheimnis Ihres Genies?», fragte der Papst Michelangelo. «Wie haben Sie die Statue von David erschaffen, dieses Meisterwerk aller Meisterwerke?» «Ganz einfach», entgegnete dieser. «Ich entfernte alles, was nicht David ist.» Kann man die Kunst des Weglassens treffender beschreiben? Wohl kaum.
Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann. Dieser von Antoine de Saint-Exupéry formulierte Massstab offenbart ein enormes Veredelungspotenzial im Management und unserer Gesellschaft ganz generell. Wenn sich also grosse Denker und Künstler einig sind, dass Einfachheit die höchste Form der Vollendung ist, wie es Leonardo da Vinci so treffend formulierte, wie kommt es dann, dass die Regeln immer mehr und die Prozesse immer komplizierter werden?
Dieses Phänomen ist nicht so neu, wie man meinen könnte. Ganz im Gegenteil. Cyril Northcote Parkinson untersuchte in diesem Zusammenhang das britische Kolonialamt, eine eigenständige Abteilung der britischen Administration, die von 1854 bis 1966 für die Verwaltung der britischen Kolonien zuständig war. Er stellte sich die Frage: Was passiert mit der Verwaltung, wenn die Arbeit weniger wird? Parkinson stellte fest, dass die Anzahl der Beamten dieses Kolonialamts unabhängig von der vorhandenen Arbeit wuchs. Die höchste Anzahl an Beamten hatte dieses Amt schliesslich, als es 1966 mangels zu verwaltender Kolonien in das Aussenministerium integriert wurde. Die Organisation war beschäftigt – aber nicht produktiv, sondern vor allem mit sich selbst.
Typisch Verwaltungen? Denkste! Schauen wir einmal in den Spiegel: Komplizierte Alltagsgeräte und Gadgets sowie heterogene IT-Landschaften ohne Durchgängigkeit entpuppen sich als Zeitfresser, während wir Stunden in ergebnislosen Sitzungen verbringen und ungeeignete Prozesse pflegen, die der Befriedigung von Regelwerken statt den Bedürfnissen von Kunden dienen. Massenhaft wertlose Kommunikation um der Kommunikation willen, mailen, posten, liken. Die nicht mehr zu bewältigende Informationsflut führt zu Überforderung und daraus folgend zu Fehlentscheidungen. Der Teufelskreis aus Aktionitis und Reaktionitis hält uns permanent beschäftigt. Aber womit denn? Damit, etwas Bedeutendes zu erschaffen, wie Michelangelo? Oder damit, Mehrwert zu generieren oder gar Nutzen zu stiften? Schön wär’s!
Dass weniger mehr ist, darüber sind sich heute die meisten einig. Einfachheit entsteht durch das Weglassen des Offensichtlichen und durch das Hinzufügen des Bedeutungsvollen. Doch wie entscheiden wir, was es braucht und was nicht? Wie kann dem ganzen technischen Wandel, der uns umgibt, der nötige Sinn gegeben werden? Das Bewusstmachen einer Tendenz unserer menschlichen Psyche könnte eventuell den Weg weisen. Ein jüngst im Magazin «Nature» erschienener Artikel beschreibt eine interessante Neigung des Menschen: Bei der Suche nach Lösungen bevorzugen wir in der Regel solche, die durch Hinzufügen von neuen Elementen entstehen, gegenüber solchen, die durch Weglassen von bereits vorhandenen Elementen entstehen – selbst wenn letztere deutlich effizienter oder günstiger wären. Das Weglassen scheint uns offenbar nicht zu liegen. Lieber machen wir mehr desselben, und wenn das nicht hilft, dann eben noch mehr. Frei nach dem Motto Mark Twains: «Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.»
Zurück zu Michelangelo. Drei Jahre, so lange arbeitete der Ausnahmekönner an der 4.34 Meter hohen Skulptur «David». Er hat sie aus einem einzigen Marmorblock gehauen. Ein eindrücklicher Beweis dafür, dass Weglassen ganz schön anstrengend sein kann. Es ist ungleich schwieriger, innezuhalten und sich zu überlegen, was man weglassen kann, als noch eine Schippe draufzulegen. Nicht von ungefähr sagte Steve Jobs, es brauche eine Menge harter Arbeit, etwas einfach zu machen. Doch es war die Mühe wert. Der durchschlagende Erfolg der Apple-Produkte liegt letztlich in ihrer Einfachheit und darin, alles Unnötige wegzulassen, besonders beim Design.
Wenn Sie also wieder einen Workshop mit ihrem Team planen, um darüber zu diskutieren, was sie alles zusätzlich tun könnten, um noch erfolgreicher zu werden, werfen Sie stattdessen die Frage in die Runde: «Leute, was können wir alles weglassen, um erfolgreicher zu sein?» Und wer weiss, vielleicht eröffnen sich Ihnen durch das Weglassen neue Wege und Perspektiven, auf die Sie ohne das Weglassen gar nicht gekommen wären. In diesem Sinne wünsche ich allen viel Erfolg mit Hammer und Meissel.