Kennen Sie ihn schon, den Homo obsoletus? Homo … wie bitte, was? Ja genau, den Homo obsoletus. Jenen Menschen, der unaufhörlich auf sein Handy schielt, dessen Smartwatch ihm in regelmässigen Intervallen durch irritierendes Vibrieren suggeriert, dass er jetzt gerade etwas verpasst, wenn er nicht sein Handgelenk konsultiert. Persönliche Anrufe sind ihm fremd, er zieht es vor, seinen Standpunkt in einem schier unendlichen SMS-, WhatsApp- oder E-Mail- Pingpong klarzumachen. Er unterhält Hunderte von digitalen Freundschaften und investiert viel Zeit, diese bei
Laune zu halten. Natürlich gelingt dies nur durch tägliches Liken und Posten, was seine Zeit, echte Freundschaften zu pflegen, drastisch einschränkt. Seine Freizeitgestaltung, seine Unterhaltung, sein Outfit, das Ferienhotel und sogar die Auswahl von Informationen, die er sich zuführt, lässt er ganz easy von Algorithmen bestimmen und auf den Bildschirm seines Smartphones projizieren.
Man könnte noch vieles anführen, was den Homo obsoletus auszeichnet. Der Begriff wurde vom Wirtschaftsphilosophen Anders Indset geprägt. Was steckt dahinter? Die Beobachtung, dass der Mensch, auch als Homo sapiens bekannt, drauf und dran ist, sich selbst abzuschaffen, also obsolet zu werden. Mit der rasant fortschreitenden Digitalisierung überlassen wir das Schlussfolgern, Kreieren und Entwickeln immer öfter den mit Big Data gefütterten Algorithmen von Grosscomputern. Nachzudenken, Dinge zu hinterfragen oder mit verrückten Ideen zu experimentieren, scheint da nicht mehr nötig. Wozu auch? Intelligente Computer liefern heute Antworten auf scheinbar alle Fragen und künstliche Intelligenz übernimmt längst mehr als blosse Routineaufgaben.
Ob das nun gut oder schlecht für unsere Gesellschaft und das Zusammenleben darin sei – darüber wird in allen erdenklichen Foren, Plattformen und Medien heftig debattiert. Man mag dazu eingestellt sein, wie man will. Tatsache ist, dass diese Entwicklung weitergeht. Selbst wenn wir wollten, sie ist nicht mehr rückgängig zu machen. Der regelrechte Krieg, der gerade jetzt auf dem weltweiten Beschaffungsmarkt von Computerchips – und damit künstlicher Intelligenz – tobt, unterstreicht dies eindrücklich. Das Internet der Dinge ist bereits Realität und wer Mark Zuckerberg über Metaverse referieren hört, dem wird bewusst, was diesbezüglich noch alles in naher Zukunft auf uns zukommt.
Also zurück zum Homo obsoletus. Schaffen wir uns tatsächlich selbst ab? Der legendäre Schweizer Troubadour Mani Matter gab schon in den Siebzigern die Antwort, als er in seinem Lied «Hemmige» treffend festhielt, dass weder die glatte Haut und der fehlende Schwanz noch unsere vergleichsweise primitiven Kletterkünste uns vom Schimpansen unterscheiden, sondern der Fakt, dass wir Hemmungen haben. Die Voraussetzung dafür, Hemmungen zu empfinden, liegt unter anderem darin, nachdenken, abwägen und Empathie empfinden zu können. Kein Algorithmus auf der Welt kann dies und wird es je können, genauso wenig, wie wirklich Neues zu erfinden und zu schaffen, denn Algorithmen bedienen sich gesammelter Daten aus der Vergangenheit.
Verstehen Sie mich nicht falsch. All die technischen Errungenschaften sind fantastisch und eröffnen ungeahnte Möglichkeiten, die wir durchaus zu unser aller Wohl nutzen sollten. Wie sapiens der Homo wirklich ist, wird sich daran zeigen, wie er mit diesen selbst geschaffenen Instrumenten umgeht. Wie schon in der Vergangenheit ist jedes Werkzeug nur so gut, wie es vom geschickten Handwerker beherrscht und eingesetzt wird.
Deshalb Homo sapiens: Besinne dich auf deine einzigartigen menschlichen Fähigkeiten wie Empathie und Kreativität. Bleibe der Meister deines Werkzeugs und verkomme nicht zum Homo obsoletus. Deine Artgenossen werden es dir danken.