Nachhaltigkeit ist ein inflationär gebrauchter Begriff. Um ihn wieder zu schärfen, lohnt ein Blick in die Geschichte.1 Dieser Rückblick ermöglicht einen klareren Blick in die Zukunft.
Oft wird Hannß Carl von Carlowitz als der Erfinder des Begriffs Nachhaltigkeit angesehen. Stimmt das, wird dies von Carlowitz’ Rolle gerecht und wer ist er überhaupt?
Hannß Carl von Carlowitz (1645 – 1714) war hoher Beamter beim Kurfürsten von Sachsen, ausgebildet in der Kameralistik, den Wissenschaften zur Verwaltung von absolutistischen Staaten. In seinem Werk «Sylvicultura oeconomica, oder hausswirthliche Nachricht und Naturmässige Anweisung zur wilden Baum-Zucht» (1713) präsentierte er alles Wissen, das er zum Thema Holz während seines Berufslebens gesammelt hatte. Für ihn war der «… Nutzen des Holtzes fast unendlich / und kein Geschöpff dergleichen praestiren kann / und
also zuschliessen / daß das Holtz zur conservation des Menschen unentbehrlich sey …». In Sachsen ist er für die Versorgung der Bergwerke und Hütten mit Holz und Holzkohle verantwortlich gewesen. Weil seine Nachfrage nach Holz oft in Konkurrenz zu anderen Bedürfnissen stand, hat er detaillierte Überlegungen zur Entwirrung dieses Verteilungskonflikts angestellt. Nach heutigen Begriffen hat er sich als «Supply-Chain-Manager» um die Wertschöpfungskette «Holzversorgung» gekümmert. Gemäss eidgenössischer Prüfungsordnung zielt diese Tätigkeit «auf eine langfristige (strategische), mittelfristige (taktische) und kurzfristige (operative) Verbesserung von Effektivität und Effizienz von Wertschöpfungsketten ab.» Und wie heute die Welt ohne funktionierende digitale Mittel stillsteht, ist dies damals bezüglich der Versorgung mit Holz gewesen. Carlowitz hat angeraten, pfleglich mit dem Holz umzugehen, zu schauen, dass eine Gleichheit zwischen dem An- und Zuwachs und dem «Abtrieb derer Höltzer erfolget» und dass eine beständige und «continuierliche» Nutzung des Holzes anzustreben sei. Er sah deshalb die grösste Kunst in seinem Land darin, dass es eine «nachhaltende Nutzung gebe / weil es [Holz] eine unentbehrliche Sache ist / ohne welches das Land in seinem Esse [Existenz] nicht bleiben mag».
Die Forstwissenschaftler Jürgen Huss und Friederike von Gadow von der Universität Freiburg im Breisgau vermuten in der Einführung zur Faksimile-Ausgabe der «Sylvicultura oeconomica» (2012), auf die ich mich hier grösstenteils berufe, dass von Carlowitz im letzten Satz ein Synonym für «beständig», «immerwährend» oder «continuierlich» suchte, um sich sprachlich nicht zu wiederholen. Das Substantiv «Nachhaltigkeit» hat er nicht verwendet. Der Begriff hat sich vom Adjektiv um 1713 weiterentwickelt – zum Substantiv
1760, zum Attribut 1790 und zur errechenbaren Formel der Nachhaltigkeit 1861. Von Carlowitz ist 1714 verstorben und hat gemäss Huss und von Gadow nie den Eindruck erwecken wollen, er hätte die Idee zu nachhaltend bewirtschafteten Wäldern entwickelt.
Für mich ist von Carlowitz ein verantwortungsbewusster Lobbyist für die Ressource «Holz». Er betrieb ERP, was sich heute zu einer eigenen Software-Kategorie entwickelt hat: Enterprise Resource Planning. Bei von Carlowitz steht das «E» aber umfassender, für «Electorate of Saxony», Kurfüstentum Sachsen, welchem er sein Berufsleben widmete. Er vollzog eine vollständige Analyse aller Einsatzmöglichkeiten von Holz inklusive der Verteilungskonflikte. Er versuchte die Nachfrage nach Holz zu verkleinern, indem er unter anderem angeraten hat, bauliche Mängel zu beseitigen, die zu Wärmeverschwendung führen. Er lieferte detaillierte Hinweise zur optimierten Holzverwendung, zum Beispiel bei Holzverkohlung, und forderte zum Ausweichen auf Ersatzprodukte auf. Hannß Carl von Carlowitz’ Werk zeigt einmal mehr auf, dass nachhaltiges Denken nicht neu ist, sondern dass wir es wieder auf alle Lebensbereiche anwenden müssen.
ANMERKUNG
1) Die Kolumne bildet den vierten Teil einer Serie von Kolumnen zum Themenkomplex Digitalisierung und Nachhaltigkeit.