Es war einmal eine böse Stiefmutter, die vor einem Spiegel stand und fragte: «Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» Der Spiegel blieb nicht stumm, sondern konnte zuhören, reden, gar ein Bild zeigen – das von Schneewittchen, wie wir alle wissen. Zu mindest im Märchen der Gebrüder Grimm konnten Spiegel schon vor rund 200 Jahren kommunizieren. Sprechende Spiegel sind heute aber nicht mehr der bösen Stiefmutter aus Schneewittchen vorbehalten. Sie sind in Form von Smart Mirrors Wirklichkeit geworden. Temperatursensoren, Touch-Fähigkeit, Internetverbindung und andere technologische Erweiterungen machen aus dem Spiegelbild mehr als ein simples Abbild unseres Äusseren.
Momentan werden Smart Mirrors noch vorwiegend in der Mode- und Kosmetikbranche eingesetzt. Bekannte Beispiele dafür sind der MemoryMirror oder ModiFace. Mithilfe von Augmented-Reality-Funktionen können Kleidungsstücke in verschiedenen Farben anprobiert werden, und es lassen sich Beautyprodukte wie Lippenstifte, Rouge oder Lidschatten testen. Gleichzeitig können Nutzer diese Spiegelbilder auf Social Media teilen und die Beautyprodukte direkt bestellen. Das trifft den Nerv der Zeit – schliesslich leben wir in einer von Schönheit, Fotos und Daten begeisterten Gesellschaft. Unternehmen wie CareOS oder Verse gehen einen Schritt weiter und machen intelligente Spiegel zum persönlichen Assistenten. Er zeigt die Zeit an, lässt den Nutzer Anrufe tätigen und spielt morgens beim Zähneputzen die Lieblingssongs. Bewegungssensoren und ein Mikrofon ermöglichen es, über Sprache und Bewegung mit dem Spiegel zu kommunizieren und Befehle zu geben. Doch die Möglichkeiten der Smart Mirrors sind durch diese Features noch lange nicht ausgeschöpft.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Informationen sich aus Gesichtern und Körpern herauslesen lassen. Glaubt man StanfordProfessor Michal Kosinski, der durch den Skandal um Cambridge Analytica bekannt wurde, werden Computerprogramme künftig viel aus unserem Spiegelbild ablesen können. Politische Einstellung, sexuelle Orientierung, Intelligenzquotient (IQ), Gesundheitszustand, Gefühlslage, kriminelle Neigung oder Charakterzüge – all das soll bald aus wenigen Fotos – oder eben dem Spiegelbild – ersichtlich sein.
Klingt wie Science-Fiction im Badezimmer. Doch bereits heute kann man anhand eines einfachen Farbfotos der Netzhaut erkennen, wie alt eine Person ist, welches Geschlecht sie hat oder ob sie in ihrem Leben geraucht hat. Ebenso lässt sich ablesen, wie hoch ihr Blutzuckerspiegel und ihr Blutdruck sind. In Zukunft sollen auch Erkrankungen wie Diabetes, Demenz oder Parkinson mit einem einzigen Blick in die Augen diagnostiziert werden können. Dann wird der smarte Spiegel sozusagen zum medizinischen Helfer und kann dem Arzt direkt wichtige Daten über den Gesundheitszustand seiner Patienten mitteilen. Abgesehen von der technischen Machbarkeit stellt sich natürlich aber auch die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz des Beobachters im Bad. Ist es notwendig, so viele Daten über Personen zu sammeln? Was passiert mit ihnen? Ist die Privatsphäre eines jeden Einzelnen gewährleistet?
Diese Fragen muss man sich bewusst machen, besonders vor dem Hintergrund, dass Unternehmen versuchen, den Smart Mirror in den privatesten Raum unserer eigenen vier Wände zu bringen. Klar ist: Im Zuge der Entwicklungen rund um das Smart Home wird der Spiegel mit Strom- und Internetanschluss zu einer immer wichtigeren Benutzeroberfläche. Damit er sich aber tatsächlich durchsetzt, muss er vermutlich mehr können, als der oder die «Schönste im ganzen Land» abzubilden.